Geschichten aus 60 Jahren WGF
1990–94

Politischer Neubeginn: aus AWG wird WGF

Das neue und moderne Wohnungsneubaugebiet in Döbeln Nord wurde 1990 planmäßig fertiggestellt. Insgesamt entstanden 2391 Wohnungen, davon waren 915 Wohneinheiten Eigentum der AWG geworden. Damit hatte die AWG 1990 insgesamt 2483 Wohnungen und 2482 Mitglieder. Am 03. Oktober 1990 tritt die DDR der BRD bei. Feierlich wurde in Berlin die Vereinigung beider deutscher Staaten begangen.

Vereinigung beider deutscher Staaten

18. Mai 1990Unterzeichnung Staatsvertrag
31. Aug. 1990Unterzeichnung Einigungsvertrag
03. Okt. 1990Die DDR tritt der BRD bei
04. Okt. 1990Gemeinsames Parlament tagt erstmals

Damit galten ab sofort die BRD-Gesetze auch auf dem Territorium der ehemaligen DDR (neue Bundesländer). Das bedeutete für die AWG Döbeln, sich einer völlig veränderten Situation schnell anpassen zu müssen. Die für unser Territorium neu geltenden Gesetze müssten möglichst schnell angewendet werden.

Klaus Beßler, Geschäftsführer und Vorsitzender der umbenannten AWG Döbeln in WG „Fortschritt“ Döbeln eG

Klaus Beßler, Geschäftsführer und Vorsitzender der umbenannten AWG Döbeln in
WG „Fortschritt“ Döbeln eG, im Gespräch:

„… Die gesellschaftliche Wende bedeutet in erster Linie eine schnelle Anpassung der Inhalte des Genossenschaftsgesetzes der ehemaligen DDR an die neuen Regeln aus dem Genossenschaftsgesetz der BRD. Der damalige Vorstand orientierte sich bei der Umgestaltung der AWG zur WG Fortschritt an den Erkenntnissen und Erfahrungen, die Herr Klaus Beßler bei der Gründung des Verbandes Sächsischer Wohnungsgenossenschaften (VSWG) – des größten genossenschaftlichen Wohnungsverbandes in Deutschland erhielt. …“


Gründerversammlung

Am 28. Juni 1990 findet im Kinosaal des Objektes der Nationalen Volksarmee
der DDR im Industriegebiet Dresden-Klotzsche/Flugzeugwerft die Gründungsversammlung des Verbandes Sächsischer Wohnungsgenossenschaften (VSWG) statt.
Versammlungsleiter Klaus Beßler, AWG „Fortschritt“ Döbeln, begrüßt neben zahlreichen Gästen, darunter Harald Hänel, erster Verbandsdirektor des Verbandes Sächsischer Wohnungsunternehmen, 119 stimmberechtigte Vertreter von 248 eingeladenen sächsischen Wohnungsgenossenschaften. Dietmar Richter, AWG „Fortschritt“ Chemnitz, trägt den Bericht über die Aktivitäten des Initiativkomitees vor und elf Delegierte sprechen zur Diskussion. Der Leiter der Wahlkommission Gerhard Thieme, AWG TuR Dresden, gibt nach der Konstituierung des Verbandsrates bekannt, dass Curt Bertram, AWG „Ernst Schneller“ Chemnitz, einstimmig zum Vorsitzenden gewählt wurde. Gerhard Thieme und Gerhard Seydewitz, AWG „Paul Kloß“ Leipzig, erhielten das Vertrauen als seine Stellvertreter, Letzterer auch als Sprecher des Verbandsrates. Damit war der größte reine genossenschaftliche Wohnungsverband in Deutschland gegründet, sowohl als Prüfungs- als auch als Fach- und Interessenverband. Sein Sitz befand sich in Dresden auf der Fechnerstraße mit einer Außenstelle auf der Bundschuhstraße.


Neue Aufgaben

Aus dem Einigungsvertrag ergaben sich für die AWG viele schwierige Aufgaben, welche in kurzer Zeit zu lösen waren, wie z. B.:

Anwendung des BRD-Genossenschaftsgesetzes

Das Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, kurz Genossenschaftsgesetz oder GenG, trat in Deutschland zum 1. Mai 1889 in Kraft. Es regelt das Recht der Genossenschaften. Nach der am 18. August 2006 in Kraft getretenen Novellierung darf es sich auch um soziale oder kulturelle Zwecke handeln, was bedeutet, dass sich auch Sozial- und Kulturgenossenschaften der eG-Rechtsform bedienen können. Diese Novellierung des Genossenschaftsgesetzes sollte Gründungen erheblich erleichtern und Vereinfachungen für kleinere Genossenschaften bringen.

Berücksichtigung des Altschuldengesetzes

Durch das am 27. Juni 1993 in Kraft getretene Altschuldenhilfegesetz wurde auch unsere Genossenschaft verpflichtet, 15 % der Wohnungen, die sich am 01.01.1993 in ihrem Besitz befanden, zu privatisieren. Damit erhalten Kommunen und Wohnungsunternehmen die Möglichkeit, ihre Altschulden aus DDR-Zeit, die vor allem durch die Finanzierung des Wohnungsbaus zustande gekommen sind, zum Teil abzubauen. Die Gewährung dieser Teilentlastung ist aber an die vorab genannte Privatisierungsauflage gebunden. Im Zusammenhang mit dieser Gesetzlichkeit konnte unsere Wohnungsgenossenschaft „Fortschritt“ ihre Altschulden auf 21 Mio DM senken. Parallel dazu steht aber die Forderung zur Privatisierung von 372 Wohnung. Entschieden war bereits, dass die Wohnungen in der Vyskover Straße 1-4 und die Albert-Schweitzer-Straße 16-43 (insgesamt 340 Wohnungen) zu verkaufen waren. Dieser Umstand wurde den Mietern mitgeteilt. Erst bei einem absolut finanzkräftigem und seriösem Erwerber, würde es zu einem Vertragsabschluss kommen.

  • neue Kreditbestimmungen
  • neue Satzung und neuer Genossenschaftsname
  • der Kauf der Grundstücke
  • die Umstrukturierung der AWG-Organe

Auflösung der Ehegattenmitgliedschaft

Die Anmeldung aller Genossenschaftsmitglieder beim Genossenschaftsregister ist umgehend notwendig und erfolgt unter den Bedingungen der Registrierung von Einzelmitgliedschaften. Die bisherigen Ehegattenmitgliedschaften sind aufzulösen. Unter Beachtung einer Frist muss eine Entscheidung getroffen werden, welcher Ehepartner die bestehende Mitgliedschaft allein fortsetzt.

  • die Mitgliederanmeldung beim Genossenschaftsregister
  • eine schrittweise Mietanpassung entsprechend dem Wohnungsgeldsondergesetz
  • die Planung und Realisierung von Modernisierungsmaßnahmen (u. a. die Ablösung der Ofenheizungen in eine Zentralheizung)

Diese Vielseitigkeit aller zu bewältigenden Aufgaben in relativ kurzer Zeit verlangte von den AWG-Mitarbeitern und den Leitungsgremien vollen Einsatz. Diese Arbeiten waren schwierig, weil die BRD-Gesetze für uns Neuland waren. Auf dem AWG-Vorsitzenden Klaus Beßler und seinem Team lastete eine große Verantwortung und viel Arbeit. Mit Unterstützung des neu gewählten Aufsichtsrates mit dem Vorsitzenden Wolfgang Hermsdorf wurden alle notwendigen Arbeiten in Angriff genommen.

Wie wurden all diese Probleme gelöst?

Am 19.11.1990 fand eine Delegiertenversammlung mit 231 Delegierten (je ein Vertreter aus einem Haus) statt. Dort wurde eine neue Satzung beschlossen. Danach gab es sogenannte Vertreterversammlungen (auf 50 Mitglieder ein gewählter Vertreter) als beschließendes Organ. Statt Revisionskommission wurde ein Aufsichtsrat gewählt.

Am 27.11.1990 bestellte der Aufsichtsrat drei Vorstandsmitglieder. Am 15.05.1991 wurde die Wohnungsgenossenschaft „Fortschritt“ Döbeln eG (WGF) in das
Genossenschaftsregister beim Kreisgericht Leipzig-Stadt eingetragen. Die Genossenschaft ist unter der Reg.-Nr. 254 beim Kreisgericht Leipzig als eingetragene Genossenschaft registriert. Die WGF wurde außerdem unter der Nummer 216 Mitglied im Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e. V. (VSWG).

Im ersten Genossenschaftsspiegel der Wohnungsgenossenschaft „Fortschritt“ Döbeln e. G. , Ausgabe April 1992, wurde die neue Struktur dargestellt:


Erste Vertreterversammlung der WGF

Am 21.05.1992 fand die erste Vertreterversammlung der WGF in der Gaststätte „Strammer Leutnant“ statt. Die eingezahlten Genossenschaftsanteile wurden im Verhältnis 1:1 in DM umgewertet. Manuelle Leistungen (Aufbaustunden) wurden nicht mehr gefordert. In einer außerordentlichen Vertreterversammlung am 08.12.1993 wurde der Antrag auf Altschuldenhilfe bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bestätigt. Verbunden damit war eine Teilentschuldung der Altschulden, eine Zinshilfe, aber auch die Verpflichtung zur Privatisierung von 15 % des Wohnungsbestandes mit Zieldatum 2003.
Der Erwerb von „Grund und Boden“ war Voraussetzung, zinsgünstige Kredite für umfassende Modernisierungen der Häuser und Wohnungen zu bekommen. Der ehemals volkseigene Grund und Boden wurde bereits 1990 Eigentum der Stadt Döbeln. Die WGF musste von der Stadt Döbeln den Grund und Boden erwerben. Verhandlungen dazu gestalteten sich schwierig und langwierig. Auf der Grundlage eines Gesetzes vom 01.07.1993 wurde der Grund und Boden für 1,00 DM/m2 gekauft. Damit war die Handelsfähigkeit der Genossenschaft gegenüber den Banken gegeben.

Modernisierung

Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten begannen 1992 an den Häusern der Albert-Schweitzer-Straße 1-9, 1993 an den Gebäuden der Bahnhofstraße und im Wohngebiet Ost I, 1994 in Grunau und Ostrau und erst 1995 im Wohngebiet Ost II. In den Jahren bis 1994 wurden bereits 740 Wohnungen modernisiert.
1994 waren noch 780 Wohnungen ofenbeheizt und 716 Wohnungen mit Zentralheizungen ausgestattet bei einem Gesamtwohnungsbestand von 2.483 WE. Die Umstellung auf Erdgas im Jahr 1993 beflügelte das komplexe Modernisierungsprojekt „vom Dach bis zum Keller“. Dieses Projekt war vom Vorstand der WGF beschlossen worden.

Die durchzuführenden Arbeiten umfassten:

  • den Heizungseinbau mit Warmwasserbereitung auf Erdgasbasis
  • die Erneuerung der Elt-Installation im Haus bis zum Kleinverteiler in der Wohnung
  • den Einbau neuer Haustüren
  • sowie in den Objekten Bahnhofstraße und Alb.-Schweitzer-Str. die Erneuerung des Daches

Notwendige Mieterhöhungen wegen BRD-Gesetzen

Entsprechend den BRD-Mietüberleitungsgesetzen für die neuen Bundesländer mussten die vorhandenen billigen DDR-Mieten stufenweise an das BRD-Niveau herangeführt werden. Auf der Grundlage

  • des Miethöhengesetzes, § 11 in der Fassung des Einigungsvertrages
  • der ersten Grundmietenverordnung vom 17.06.1991
  • der zweiten Grundmietenverordnung vom 27.07.1992

wurde z. B. die Grundmiete für eine 2,5-Zimmerwohnung in Döbeln Ost II wie folgt erhöht:

DatumGrundmieteErhöhung umGrundmiete neu
bis 09/9146,12 DM
ab 10/91 46,12 DM 1,15 DM/m²113,17 DM
ab 01/93 113,17 DM 1,20 DM/m²232,47 DM
ab 12/93 232,47 DM Wohnungsneuvermessung237,02 DM
ab 03/94 237,02 DM 0,60 DM/m²272,84 DM
ab 08/95 272,84 DM 10 % 300,12 DM

Zusätzlich gab es Betriebskostenerhöhungen und Modernisierungszuschläge von 11 % der Modernisierungskosten pro Monat.